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Übergabezeremonie der Sterbebücher der Heilanstalt Meseritz-Obrawalde
2010-01-26 01:00
In einer Feierstunde im Martin-Gropius-Bau, die von der Spendenberatung SCHENcK für den Paritätischen Wohlfahrtsverband, Landesverband Berlin, organisiert wurde, wurden am 26. Januar 2010 die aufgefundenen Sterbebücher der nationalsozialistischen Tötungsanstalt Meseritz-Obrawalde an das Berliner Landesarchiv übergeben.
Nach einer musikalischen Einführung, einer Klaviersonate des 1945 in ebendieser Anstalt gestorben Komponisten Norbert von Hannenheim, begrüßte Frau Prof. Dr. Barbara John die 100 Gäste aus Bundes-, Landes- und Bezirkspolitik, der Wissenschaft und der breitgefächerten Berliner Trägerlandschaft der Behindertenhilfe. Bei der Durchsicht der Sterbebücher mit fast 5.000 Namen ermordeter behinderter Patienten, war ihr besonders Gertrude Martha Steinbrück im Gedächtnis geblieben, die den gleichen Vornamen und das gleiche Geburtsdatum, wie ihre eigene Mutter hatte, die jedoch 93 jährig verstarb, während bereits 1942 durch Injektion einer Überdosis getötet wurde. Sie hoffe, so Frau John, dass „so bald aller Opfer der Sterbelisten gedacht würde“.
Wojciech Pomianowski, stellvertretender Leiter der polnischen Botschaft, wies darauf hin, dass geistig behinderte Menschen ausgerechnet an einem Ort den Tod fanden, der ihnen Schutz geben sollte: der Heilanstalt Meseritz-Obrawalde. Mit der Aussage „eine europäische Zukunft ohne gemeinsame Erinnerung ist unmöglich“ unterstrich der Gesandte-Botschaftsrat zudem die Wichtigkeit der Aufarbeitung der NS-Verbrechen in deutsch-polnischer Zusammenarbeit.
Der Berliner Staatsekretär für Soziales, Rainer-Maria Fritsch, betonte die Symbolkraft der Veranstaltung am Vorabend des nationalen Gedenktages an die Opfer des Nationalsozialismus. In Anwesenheit des Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hubert Hüppe, der am heutigen 27. Januar um 15 Uhr einen Kranz für alle Euthanasie-Opfer niederlegen wird, nannte Dr. Hanke, Bezirksbürgermeister von Mitte, die Sterbebücher eine „Erinnerungsperspektive“, die den Menschen heute die Möglichkeit gäbe, Betroffenheit und Mitgefühl für die bisher anonymen Opfer der Jahre 1939 bis 1945 zu empfinden. Dass die Opfer der Euthanasie noch keinen würdigen Gedenkort hätten, sei u.a. auf die verspätet einsetzende Erforschung der Opfergeschichte zurückzuführen, „weil viel vergiftetes Gedankengut der Nazis noch lange nachwirkte“.
Für die Stiftung Topographie des Terrors, rückte Prof. Nachama die Frage nach den Tätern aus Ärzteschaft und Pflegepersonal der „Heilanstalt“ in den Mittelpunkt. Um zu verhindern, dass sich das Geschehene wiederhole, sei nicht nur die medizinische Ausbildung künftiger Ärzte wichtig, sondern der stete Appell an „das Gespür für die eigene Verantwortung, die jeder Bürger für die ganze Gesellschaft haben müsse“.
Sigrid Falkenstein rückte das Schicksal von Pauline Frommholz in den Mittelpunkt und verlas die rekonstruierte Lebensgeschichte der 1943 als „gemeingefährliche geisteskranken“ ermordeten Berlinerin. Als Sprecherin des „Runden Tisches T4” plädierte sie zudem an alle Verantwortlichen mitzuhelfen, an der Tiergartenstrasse 4 einen würdigen Gedenkort für die geschätzt 300.000 Opfer der Euthanasie zu schaffen.
Für das deutsch-polnische Wissenschaftler-Team, dass die Sterbebücher dem Vergessen entrissen hatten, skizzierte Dr. Ingo Loose von der Humboldt-Universität zu Berlin die noch zu erforschenden Fragen der Euthanasie auf der kognitiven Ebene. So hatte Loose als Beleg für die perfide Propaganda der Nazis, die bis heute nachwirke, in einem Internet-Lexikon den Hinweis gefunden, dass die Euthanasie 1942 beendet worden wäre. Dabei belegen u.a. die Sterbebücher von Meseritz-Obrawalde eindeutig die hohen Opferzahlen von 1943-1945, jedoch kaschiert mit gefälschten Todesursachen. „Deswegen müssen auch die bisher ungesichteten, erhaltenen Patientenakten ausgewertetet werden“, so Loose.
Nachdem die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin, Prof. Barbara John, die 2 Kartons mit den Sterbelisten an das Landesarchiv Berlin übergeben hatte, ergriff dessen Direktor, Prof. Dr. Uwe Schaper das Wort. Er hob die Wichtigkeit von Archiven beim aktiven Gedenken hervor, denn „durch die Arbeit des Landesarchivs Berlin bekämen die Opfer ihren Namen und damit einen Teil ihrer Würde zurück“.
Der festliche Rahmen der Veranstaltung im stilvollen Restaurant im Martin-Gropius-Bau wurde durch musikalische Einlagen eines Streicher-Duos des Deutschen Symphonie-Orchesters und die Bewirtung beim anschließenden Empfang durch die Mosaik-Integrationsgesellschaft (hier arbeiten auch Menschen mit Behinderung) abgerundet.
Berlin, 27.01.2010 Stefan Schenck